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Noël Tshibangu

Sexualität im kirchlichen Kontext: Chancen und Herausforderungen für eine Kirchgemeinde

Übergriffe und Missbrauch sind die Gelegenheiten, zu denen in der Kirche über Sexualität gesprochen wird. Doch viele wünschen sich, das wäre anders. Noël Tshibangu, Studienleiter im Arbeitskreis für Zeitfragen, arbeitet in Biel daran, dies zu ändern und der Kirche beim Thema Sexualität zu einer Sprache zu verhelfen.

Der Arbeitskreis für Zeitfragen (AfZ) ist das Zentrum für Erwachsenenbildung und Dialog der Reformierten Kirchgemeinde Biel. Er fördert den gesellschaftlichen Dialog zwischen Menschen, Gemeinschaften wie auch Organisationstrukturen. Gesellschaftlich relevante Themen aufzugreifen und in geeigneter Form zu bearbeiten, gehört zu seinen Aufgaben. Entsprechend identifizierte der AfZ 2019 das Themenfeld Sexualität im kirchlichen Kontext und führte es ein. 

Am Themenschwerpunkt Sexualität im kirchlichen Kontext zu arbeiten, heisst zunächst gegen die traditionelle Tabuisierung dieses Themas, gegen das herrschende Schweigen dazu und wahrscheinlich auch gegen die Kultur des Wegschauens anzukämpfen. Dies liegt vielleicht auch daran, dass in der Kirche oftmals nur dann über Sexualität debattiert wird, wenn Skandale wie Übergriffe oder Missbrauchsfälle bekannt werden oder wenn es, wie zuletzt als es um die Ehe für alle ging, innerkirchlich und gesellschaftlich umstrittene Themen betrifft. Es ist aber wichtig, Sexualität auch in der Kirche nicht nur als Problem zu thematisieren, sondern sie als lebensnotwendig für alle wahrzunehmen. 

Was ist Sexualität überhaupt?

Es gilt zunächst festzuhalten, dass Sexualität ein persönliches Recht ist und alle Menschen betrifft. Die WHO hat ein umfassendes Verständnis von Sexualität. Sie sieht sie als natürlichen Teil der menschlichen Entwicklung in jeder Lebensphase, welche physische, psychische und soziale Komponenten miteinschliesst.

Der Begriff «Sexualität» enthält das biologische Geschlecht, die Geschlechtsidentität, die Geschlechterrolle, sexuelle Orientierung, Lust, Erotik, Intimität und Fortpflanzung über die gesamte Lebensspanne hinweg. Sie wird erfahren und drückt sich in Gedanken, Fantasien, Wünschen, Überzeugungen, Einstellungen, Werten, Verhaltensmustern, Praktiken, Rollen und Beziehungen aus. Sexualität wird durch das Zusammenwirken biologischer, psychologischer, sozialer, wirtschaftlicher, politischer, ethischer, rechtlicher, religiöser und spiritueller Faktoren beeinflusst.

Erste Sondierungen

In den Kirchen gibt es allgemein immer noch zu wenig Diskussion zur Vorbeugung von Missbrauch, zum Umgang bei Missbrauchsfällen und zur Unterstützung von Opfern. Leib- und gesundheitsfeindliche Sexualmoral, patriarchalische Beziehungsmuster und verzerrte Bilder von Sexualität beeinflussen immer noch den Umgang mit dieser Thematik im kirchlichen Kontext. Eine respektvolle und geeignete Sprache zu finden wie auch bedarfsgerechte Umsetzungsformen in den Gemeinden sind vielfach eine Herausforderung für die verantwortlichen Fachpersonen im kirchlichen Kontext: Pfarrpersonen, Mitarbeitende im Religionsunterricht, Seelsorger:innen, in der Sozialberatung, bei Jugendarbeiter:innen und anderen.

Im Rahmen dieses damals noch neuen Schwerpunktes war es uns wichtig, ein Stimmungs- und Meinungsbild in der Kirchgemeinde zu gewinnen. Anfang 2020 führten wir daher diverse Sondierungsgespräche unter anderem mit Pfarrpersonen der Kirchgemeinde Biel. Wir konnten uns ein erstes Bild über die Vorstellungen und Kompetenzen derselben bezüglich einer Umsetzung des Themas machen. Die Gespräche zeigten grosse Unterschiede bezüglich Herangehensweise, Wissensstand und Handlungsbedarf.

Skandale und Fälle von Missbräuchen im Zusammenhang mit Kirchen prägen allzu oft Diskussionen.

Im Grossen und Ganzen zeigten sich ähnliche Fragen und Herausforderungen. Hie und da erfuhren wir auch einige Gründe für Widerstände diesem Themenfeld gegenüber. Vieles deckte sich mit den aus verschiedenen Fachquellen und allgemein bekannten Aspekten in kirchlichen Strukturen. Viel wichtiger für uns war deshalb die Identifizierung von progressiven Kräften und Schlüsselpersonen innerhalb und ausserhalb der kirchlichen Struktur wie auch der eigenen Ansatzmöglichkeiten.

Aus unseren Gesprächen ergab sich: Was in der allgemeinen Öffentlichkeit zu beobachten ist, scheint sich auch in unserer kirchlichen Struktur abzubilden. Es wird vor allem kontrovers und über Positionen für oder gegen einzelne Teilaspekte von Sexualität diskutiert. Skandale und Fälle von Missbräuchen im Zusammenhang mit Kirchen prägen allzu oft Diskussionen.

Erarbeitung einer christlich reflektierten Haltung gegenüber Sexualität

Mit der damaligen Schwerpunktleiterin Dr. Luzia Sutter-Rehmann führten wir 2019 dieses Schwerpunktthema ein. Das Verständnis von Sexualität und der Umgang damit sind gesellschaftlich wichtige Zeitfragen, denen auch die Kirchen nicht länger ausweichen können. Sie sollen systematisch bearbeitet werden. Das heisst, sie sollen faktenbasiert, methodisch und aus verschiedenen Perspektiven reflektiert werden. 

Die Themenbereiche «Geschlecht, selbstbestimmte Sexualität, Sprachfähigkeit» in kirchlichen Kontexten sind dabei zentral. Darin enthalten sind Themen wie: Ehe für alle, Gendergerechtigkeit, Regenbogenfamilien, sexuelle Gesundheit, sexuelle Selbstbestimmung und vieles mehr. Sie umfassen Sensibilisierungs-, Bildungs- und Projektarbeit. Dies ist theologisch, biblisch und sozial klar herausfordernd. Die Umsetzung erschliesst verschiedene Personenkreise, Organisationen, Vereine wie auch nicht formalisierte Gruppen. Dabei sind Kirchenmitglieder und kirchliche Strukturen natürlich auch betroffen.  

Sprachfähigkeit entwickeln oder hatte Jesus Sex?

Wie kann man über etwas sprechen, wenn man keine Sprache dafür hat? Eine Sprachfähigkeit zu Sexualität soll zunächst in kirchlichen Strukturen beginnen, speziell bei der Bekämpfung von Tabus bei all ihren Berufspersonen. Ein christlich reflektierter Diskurs und Praxis können nur entwickelt werden, wenn in der Kirche nicht ständig das Thema Sexualität umschifft wird oder nur Verbote weiter tradiert werden. 

Fragen zu diesem Themenfeld sind zahlreich, sehr komplex und dazu sind keine einfachen Antworten möglich, beispielsweise: Ist Gott einfach männlich? Ist es Blasphemie zu fragen, ob Jesus Sex hatte? Was würde Jesus Christus zum Einsatz von Potenzmitteln und künstlicher Befruchtung sagen? War Maria vielleicht ein Vergewaltigungsopfer? Inwiefern sind alle heterosexuellen Praktiken als christlich zu bezeichnen? Wie ist eine christliche Sexualerziehung zu definieren? Ist Masturbation christlich? Des Weiteren haben die Bewegungen #MeToo, #ChurchToo und Maria 2.0 reichlich Fragen und Diskussionspunkte dazu geliefert. 

Foto von Juliette F auf Unsplash

Der AfZ möchte weiter zur notwendigen Korrektur und zur Entwicklung einer christlich reflektierten Haltung gegenüber Sexualität wie auch zur Sensibilisierung bezüglich Sexualität im kirchlichen Kontext beitragen. Hier setzen wir zum Beispiel an eine Reflexion über den Stellenwert der Sexualität ausserhalb der Vermehrung zu lancieren. Es geht etwa darum, andere mit Sexualität erfahrbare Aspekte aus christlicher Perspektive zu würdigen, diskutieren und wo nötig auch zu vermitteln: so zum Beispiel Bestätigung, Sinnlichkeit, Erotik, Beziehungsfähigkeit, Genderrollen, Liebe und vieles mehr. 

Meinungsverschiedenheiten und Mitbestimmung

Der AfZ arbeitet vernetzt und strebt eine interdisziplinäre Zusammenarbeit auf lokaler wie auch auf nationaler Ebene an. Hierzu bietet er Dialog, Unterstützung durch Beratung, Zusammenarbeit und Weiterbildungen. Das heisst für die Umsetzung vor allem auch mittel- und langfristig verschiedene Dialogformen, nach einem partizipativen Ansatz, mit kirchlichen Organisationen, Pfarrpersonen, Kirchgemeinden wie auch mit einzelnen Personen zu organisieren und permanent durchzuführen. Dialogprozesse dieser Art können natürlich nicht ohne Meinungsverschiedenheiten, Wiedersprüche oder Schwierigkeiten verlaufen, zumindest vorübergehend. 

Denn es ist vor allem wichtig, nicht über die Menschen und die Köpfe der Betroffenen Entscheidungen zu treffen.

Nicht zuletzt ist bei diesen Dialogprozessen von zentraler Bedeutung, sich Menschen in marginalisierten und diskriminierten Lebenskontexten zu nähern, um mit ihrer Beteiligung eine menschenfreundliche Praxis im Umgang mit Sexualität zu entwickeln und dann auch zu pflegen. Denn es ist vor allem wichtig, nicht über die Menschen und die Köpfe der Betroffenen Entscheidungen zu treffen. Zumal viele marginalisierte Gruppen, wie etwa Homosexuelle, eine lang erhoffte und explizite Offenheit in offiziellen Auftritten der Kirchen bislang klar vermissen. Dabei braucht es Differenziertheit und viel Sorgfalt, um hie und da hermeneutische Prozesse bezüglich Sexualität zu initiieren oder zu begleiten und womöglich auch mitzugestalten. Davon ausgehend, knüpft der AfZ mit Sensibilisierung und Bildung daran an.

Thinktank Sexualität im kirchlichen Kontext

Als Dialog- und Reflexionsgefäss wurde 2019 der «Thinktank Sexualität im kirchlichen Kontext» ins Leben gerufen. Nebst Pfarrpersonen sind u.a. auch Spezialist:innen aus den Bereichen Medizin, Sexualaufklärung, Gender Studies und sozialer Arbeit vertreten. Der Thinktank möchte zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Thema beitragen. Dabei geht es nicht darum, «Spezialist:innenwissen» zu fördern, sondern darum, das Thema in der Kirchgemeinde Biel und darüber hinaus vermehrt zu diskutieren und zu verankern. Er unterstützt den AfZ bei der Vernetzung mit Stellen oder Personen, welche an der Thematik ein Interesse haben und dazu beitragen können. Der Thinktank kann Arbeitsgruppen bilden. Diese können themen- oder projektbezogen arbeiten. 

Mit dem Thinktank konnte der AfZ verschiedene Projekte realisieren, selbst während der Covid-Pandemie. So wurden beispielsweise audiovisuelle Medien produziert und über die Onlineplattform compass-bielbienne.ch publiziert. Das Ergebnis ist die Video-Reihe Vorsicht Tabu: Fünf Videogespräche zu Bibel, Kirche und Sexualität unter anderem mit Claudia Janssen, Professorin für feministische Theologie und für Theologische Geschlechtsforschung in Wuppertal.

Ein Glossar zur Diskussion zur «Ehe für alle»

Aufgrund der Aktualität «Ehe für alle» respektive «Trauung für alle» (Nationale Abstimmung 2021) war dieses Thema im Vordergrund unserer Umsetzungsmassnahmen. Sodann konnte der AfZ mit der Geschlechterforscherin und Redaktorin Dr. Geneva Moser zusammen eine weitere dreiteilige Audio-Reihe zu queerer Sexualität im Alter realisieren. Aus der Feststellung, dass auch die LGBT-Community in die Jahre kommt, gingen wir der Frage nach, ob und wie die Altersheime auf sie vorbereitet sind und wir fragten nach ihren Zielen und Bedürfnissen, bezüglich Betreuung und Seelsorge. Auch die Frage der Schulung und Schulungsmöglichkeiten für das Personal wurde gestellt. Nebst der Aufschaltung auf Compass, der online-Agenda des AfZ, haben wir die Videos verschiedenen Organisationen zur Verfügung gestellt.

Ein weiteres wichtiges Projekt wurde ebenfalls vom Thinktank angeregt und personell stark mitgetragen: Das Glossar als Orientierungshilfe zur Ehe für alleDie Gesprächssynode der reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn (refBEJUSO) plante 2021 eine Aussprache zur «Trauung für alle» im Zusammenhang mit der öffentlichen und politischen Debatte zur Ehe für alle. Eine Untergruppe des Thinktanks beschloss, die Vertreter:innen in der Synode[1]mit einem zweisprachigen Glossar auszurüsten, da über viele Begriffe im Zusammenhang mit der Queer Community und den Gender Studies Verunsicherung herrscht. Die Broschüre diente als Orientierungshilfe und wurde allen Synodalen zugestellt. 

Queerfriendly Gottesdienste 

Der AfZ hat mit unterschiedlichen Gruppen aus der Queer Community Kontakt aufgenommen. Seit 2021 können in Biel nun Queerfriendly-Gottesdienste stattfinden. Sie werden meist ökumenisch, in Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Gemeinde, und bilingual gehalten. Aus diesen verschiedenen Gruppen wurde seit diesem Jahr, die ökumenische All Inclusive Arbeitsgruppe gebildet, welche mit uns gemeinsam alle Queer-Gottesdienste plant und organisiert. 

Denn die Liebe Gottes lässt sich nicht in Bruchteile zerstückeln und nach irgendwelchen menschlichen Kriterien selektiv den einen Menschen zuteilen und anderen verwehren.

Diese explizite Bezeichnung «Queerfriendly Gottesdienste» soll keine anderen Personen ausschliessen. Sie ist bewusst gewählt, als Zeichen der Offenheit und Einladung für die Gemeinschaften, welche die Kirche bislang, aus welchen Gründen auch immer, als nicht offen für sie wahrgenommen hatten. In den Queerfriendly Gottesdiensten wird auch nichts anderes als Gott gelobt. Denn die Liebe Gottes lässt sich nicht in Bruchteile zerstückeln und nach irgendwelchen menschlichen Kriterien selektiv den einen Menschen zuteilen und anderen verwehren. Diese Gottesdienste wurden zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit, die Brücken zu vielen Gemeindegliedern und Nicht-Gemeindegliedern baut. 

Inzwischen haben die Pfarrpersonen der reformierten Kirchgemeinde Biel, von denen einige auch im Thinktank Sexualität mitgearbeitet haben, ihre Bereitschaft, queere Paare zu trauen, deutlich kommuniziert. Der Think Tank diskutierte die Idee eines queeren Pfarramts und die meisten Mitglieder würden die Schaffung einer Pfarrstelle für die Queer Community, zweisprachig und vielleicht auch ökumenisch, begrüssen. Auch hier konnten Kontakte mit Pfarrpersonen aus Bern, Basel und Zürich vertieft werden. 

Neben Weihnachtsfeiern konnte bis jetzt auch ein queeres Pfingstfest zelebriert werden. Neu dieses Jahr (2023) ist auch ein Gottesdienst zum Trans Day of Remenbrance geplant. Es sind wohltuende Begegnungen und für einige auch versöhnliche Momente. 

Vernetzung als wichtige Ressource

Der AfZ arbeitet in unterschiedlichen Formen mit kirchlichen und menschenrechtlich engagierten Partnerorganisationen zusammen. Dazu gehört auch der Verein Dahlia, der sich für die Förderung von sexuellen Rechten im kirchlichen Kontext einsetzt. Dahlia möchte den kirchlichen Diskurs mit Guidelines unterstützen, Menschen sensibilisieren und Good-Practice-Beispiele bekanntmachen. Aus dieser Zusammenarbeit mit Dahlia entstehen aktuell Projekte mit der Kinder- und Jugendarbeit der reformierten Kirchgemeinde Biel. 

Wer sich auf das Thema Sexualität einlässt, wird merken, wie fruchtbar es in der Kirchgemeinde sein kann. So viele Menschen haben dazu Ideen, sehen Möglichkeiten, etwas voranzutreiben, oder haben Diskussionsbedarf. Die Brückenfunktion dieses Themas belebt eine Gemeinde und ermöglicht persönlich und gesellschaftlich versöhnliche Schritte zu einer lebendigen und gerechten Welt.


[1] Kirchliches Parlament der kantonalen Körperschaft

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