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Markus Wild

Tierethik als Traditionsbruch

Ein Blick zurück auf die Tier-Mensch-Geschichte zeigt ein sehr einseitiges Machtverhältnis. Der Mensch nutzt Tiere, isst sie, macht Versuche mit ihnen. Er ordnet Tiere in Kategorien über ihre Funktion. Dabei macht er den Fehler, die so entstandene Ordnung als natürlich wahrzunehmen. Markus Wild, Professor für Tierethik, fordert den Bruch mit dieser Tradition.

Will man eine etwas trockene Definition der Tierethik, kann man sagen: Tierethik befasst sich mit der Frage, was wir mit Tieren tun dürfen und was nicht. Dürfen wir sie halten, essen, Versuche mit ihnen anstellen, Sport mit ihnen treiben, Sex mit ihnen haben, einsperren, töten, jagen? Die überwiegende Anzahl der Menschen ist der Meinung, dass wir dies alles tun dürfen, ausser Sex. Freilich sollten wir dabei Menschlichkeit und Respekt walten lassen. Tiere sollen menschlich und respektvoll getötet werden. 

Eine wachsende Minderheit von Menschen hält das nicht für zulässig. Mit der Ausnahme des Zusammenlebens mit Tieren sollte uns das alles ebenso abstossen wie Sex mit ihnen. Diese Minderheit, zu der auch ich gehöre, fordert Rechte für Tiere. Solche Rechte wären in unserer liberalen Rechtsordnung zulässig. Die Frage ist nur, ob wir sie zulassen.

Grundrechte für Primaten

Der Kanton Basel-Stadt hat im Februar 2022 über Grundrechte für Primaten abgestimmt. Die Initiative wollte, dass die Basler Verfassung Affen ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit garantiert. Die Gegner, allen voran der Basler Zoo, argumentierten, dass es manchmal notwendig sei, einen Affen töten zu können; diese Entscheidung sei ihnen zu überlassen; überhaupt seien Rechte für Menschen da, nicht für Tiere. Die Stimmbevölkerung hat dem Zoo mit 75% recht gegeben. Ein Jahr später liess der Zoo ein gesundes Orang-Utan Baby umbringen, dessen Mutter überraschend gestorben war. Mit der Initiative wäre das nicht passiert. Die Gründe für diese Entscheidung sind dieselben, die der Zoo während der Abstimmung vorgebracht hatte, aber die Situation ist eine andere, denn 75% der Stimmbevölkerung haben jetzt der Tötung zugestimmt. 

Es ist offensichtlich, dass Rechte für Tiere einen Bruch mit der Tradition darstellen.

Es ist offensichtlich, dass Rechte für Tiere einen Bruch mit der Tradition darstellen. Man stelle sich eine Welt vor, in der Rinder, Hühner und Schweine nicht gezüchtet, eingesperrt und getötet werden! Eine weniger trockene Definition der Tierethik lautet, dass eine solche Welt ihr Ziel ist. Dies widerspricht dem beinahe schon angeborenen Ordnungssinn der meisten Menschen. In dieser Ordnung stehen Tiere unter den Menschen. Wie ich zeigen werde, ist diese Ordnung heute systematisch destruktiv. Deshalb sollten wir uns nicht mehr an die Tradition klammern, sondern mit ihr brechen.

Das Tier ist dem Menschen nicht gleichgültig

Tiere waren den Menschen nie gleichgültig. Es gehörte von Anfang an zur Kultur, das Verhältnis von Mensch und Tier dazustellen und über es nachzudenken. In der sogenannten «Höhlenmalerei» finden sich überwiegend Tierdarstellungen: Löwen, Bären, Auerochsen, Pferde, Wisente, Rentiere, Nashörner, Vögel. Sie sind deutlich erkennbar. Das geübte Auge vermag sogar zu erkennen, dass ein Bulle kurz vor der Brunftzeit dargestellt ist. 

Menschen werden kaum dargestellt. Diese Tiergemälde sind nicht nur eine Form der Kunst, sondern auch Speicher für naturhistorisches Wissen über diese Wesen. Vermutlich war es wichtig erkennen zu können, ob ein Rentierbulle sich vor oder bereits im Zustand der Brunft befindet, weil das einen Unterschied für seine Aggressivität und entsprechend für die Jagd auf diese Tiere macht.

Die funktionale Ordnung

Tiere spielen eine Rolle in Kunst, Mythen und Religionen, und mit der systematischen Erforschung der Natur werden sie klassifiziert und zu Gruppen geordnet. Bei all diesen Tätigkeiten geht es darum, unser Wissen über Tiere darzustellen, zu vermitteln und aufzubewahren. Dabei werden Tiere in eine natürliche, kosmische, religiöse oder wissenschaftliche Ordnung eingefügt. Sie haben in diesen Ordnungen ihren Platz, der stets ein Platz unter jenem des Menschen ist.

Der Mensch dagegen ist Zentrum und Nutzniesser dieser Ordnungen. Neben den genannten Ordnungen gab und gibt es etwas, das ich «funktionale Ordnung» nennen möchte. Tiere werden nach ihrem Nutzen für den Menschen geordnet und platziert. Bereits die Tierdarstellungen in den Höhlenbildern sind Teil einer solchen Ordnung, denn sie geben Auskunft über Beute- und Jagdtiere. Während Jagd auf Pferde gemacht wird, sind Löwen Konkurrenten, die gefährlich werden können.

© Julia Del Negro

Ausdrücke wie «Nutztier», «Arbeitstier», «Versuchstier», «Haustier», «Schädling», «Nützling», «Fleischlieferant», «Zuchtbulle» und ähnliche sind funktionale Begriffe – sie ordnen Tiere entsprechend ihrer Funktion für uns. Wildtiere fallen etwas aus dieser Ordnung, allerdings erkennen wir an der Diskussion um den Wolf oder um «Wildschäden», dass auch Wildtiere einen Ort in dieser funktionellen Ordnung haben. 

Zudem fallen die Wildtiere heute gar nicht mehr so sehr ins Gewicht. Schätzungen zufolge, sind nur noch 30% aller lebenden Vögel Wildvögel, die anderen 70% sind Agrargeflügel. Bei Säugetieren sieht es noch schlechter aus. Nur noch 4% der lebenden Säugetiere sind Wildtiere, der grosse Rest sind Nutztiere wie Rinder und Schweine sowie das Säugetier Mensch.

Tiefe Eingriffe in Tierkörper

Diese Zahlen zeigen, dass die funktionale Ordnung sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat. Natürlich wurden Tiere schon immer auf eine bestimmte Funktion hin gezüchtet: Wolle, Eier, Knochen, Fleisch, Milch. Doch der Eingriff in die Körper der Tiere war noch nie so tief. Legehennen sind heute hochartifizielle Leistungsträger. 

Fast alle Legehennen in der Schweiz haben mehrere Knochenbrüche.

Während das Huhn in seiner natürlichen Variante bis zu 20 Eier im Jahr legte, sind es heute weit über 300. Zudem werden die Eier immer grösser. Beides hat üble Folgen für die Hühner. Fast alle Legehennen in der Schweiz haben mehrere Knochenbrüche. Zudem leiden sie unter Verletzungen und Entzündungen der Eileiter. Wir verändern die Körper so stark, dass ein Hühnerleben eine Qual ist.

«Leben» als Abfallprodukt

Für unseren Nutzen nehmen wir Leiden systematisch in Kauf. Männliche Hühner sind in dieser Zuchtlinie wirtschaftlich fast wertlos. Sie werden vergast oder geschreddert. «Leben» verkommt zu einem Abfallprodukt. Eine dritte Veränderung in der funktionalen Ordnung der Tiere zeigt sich darin, dass der Gebrauch von Nutztieren die natürliche Ordnung zerstört. Wie gesagt sind heute etwa 70% der Vögel Agrargeflügel und gewaltig sind die Massen an Rind und Schwein. Dies verschlingt Wasserressourcen, Landreserven, Antibiotika und befeuert die Klimaerwärmung. Nutztierhaltung zerstört den Lebensraum von Wildtieren und Menschen. 

Der Mensch war und ist Zentrum und Nutzniesser einer funktionalen Ordnung der Tiere, die heute eine globale Ordnung rücksichtsloser Ausbeutung ist.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir weltweit systematisch Leiden, Abfall und Zerstörung in Kauf nehmen, weil wir Tiere im grossen Massstab wirtschaftlich nutzen. Diese Entwicklung war von Anfang an im Verhältnis zu Tieren angelegt. Der Mensch war und ist Zentrum und Nutzniesser einer funktionalen Ordnung der Tiere, die heute eine globale Ordnung rücksichtsloser Ausbeutung ist.

Im Unterschied zu Tieren können wir Menschen uns zu dieser Situation verhalten. Wir erfahren unsere Leben nicht nur als mehr oder weniger gut oder schlecht, sondern wir machen uns Gedanken über das Leben und streben Veränderungen an. Denn im Unterschied zu Tieren können Menschen ihr Leben zeitlich überblicken, weit zurückschauen und weit vorausplanen. Zudem fällen wir Urteile darüber, ob wir ein Leben gut oder schlecht führen, was wir besser machen könnten. Pessimistische Philosophen wie Schopenhauer, auch einer der ersten Tierethiker, haben in meinen Augen richtig argumentiert, dass das Leben, wenn es insgesamt mehr Leid als Lust enthält, etwas ist, das besser nicht wäre. Allerdings haben sie dabei übersehen, dass unser Verhalten einen Unterschied macht. Solange wir Leiden, Abfall und Zerstörung bei Tieren in Kaufe nehmen, entwerten wir das Leben.

Das Tierschutzgesetz ist ein Tiernutzgesetz

Dagegen mag man einwenden, dass sich die Zahl der Menschen, die ernährt werden müssen, in den letzten Jahrzehnten dramatisch erhöht hat. Wir können nicht umhin, viele Nutztiere zu halten und zu töten. Das trifft nicht zu. Die Umstellung auf eine pflanzenbasierte Landwirtschaft würde nicht mehr, sondern weniger Land und Wasser benötigen. Weiter könnte man einwenden, dass es Tieren in unserer Obhut besser geht, sind sie doch vor Hunger, Kälte, Krankheiten und Fressfeinden geschützt. Auch das trifft nicht zu. Wir sorgen uns zwar um das Wohl einiger weniger Tiere, das Leben der überwiegenden Anzahl ist hingegen Ausbeutung, Leiden, Abfall und Zerstörung. 

Schliesslich wird man einwenden, dass man die Probleme erkannt und grosse Verbesserungen erreicht habe. So werden in der Schweiz die Ferkel nicht mehr ohne Narkose kastriert, Legehennen haben Auslauf, Mastschweine haben 0.30 Quadratmeter mehr Platz. Diese Fortschritte sind lächerlich und Teil des Problems, nicht Teil der Lösung. Die Tierschutzgesetzgebung ist eine Tiernutzgesetzgebung. Sie gibt den Bedürfnissen der Tiere gerade so viel Raum, um das schlechte Gewissen zu besänftigen. 

Die natürliche Ordnung?

Die funktionale Ordnung im Mensch-Tier-Verhältnis hat über Hunderte von Jahren leidlich funktioniert und wir haben die eingefleischte Illusion erworben, sie als natürliche Ordnung zu sehen. Es ist erstaunlich, dass die Art und Weise, wie wir Nutztiere züchten, halten und umbringen, etwas Natürliches sein soll. Oben habe ich gesagt, dass wir uns nicht länger an die traditionelle Ordnung klammern, sondern mit ihr brechen sollten. Hätte ein solcher Bruch nicht auch verheerende Folgen für die Tiere? 

Es gäbe viele Tiere gar nicht mehr, die jetzt nur mit uns existieren. Doch eine solche elende Existenz ist nicht wünschenswert. Leben ist nicht immer ein Geschenk. Für die meisten Tiere ist es eine Qual und kein Grund zur Dankbarkeit. Nehmen wir an, alle Menschen würden plötzlich verschwinden, was würde mit den Hunden weltweit passieren? Anfangs wäre es schwer. Kleine Hunde würden unter die Räder kommen – bestimmte Hunderassen verschwinden. Doch nach dieser beschwerlichen Übergangsphase würden die Hunde wahrscheinlich insgesamt ein gutes Leben führen können, ohne uns. Es wäre schön, wenn das auch mit uns ginge.


Weitere Literatur

H. Grimm und M. Wild, Tierethik zur Einführung, Hamburg: Junius 2016.

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Autor

  • Markus Wild

    Professor für Philosophie an der Universität Basel ||| Markus Wild (*1971) stammt aus der Ostschweiz. Er hat in Basel, Berlin und Fribourg Philosophie gelehrt und ist seit 2013 Professor für Philosophie an der Universität Basel.

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