Verschwörungstheorien
Christian Metzenthin

Verschwörungsglaube: Was Verschwörungstheorien mit Religion zu tun haben

Religion ist sinnstiftend, bietet eine Welterklärung, reduziert Komplexität und trägt zur Gemeinschaftsbildung bei. Verschwörungstheorien können dies ebenfalls tun. So gesehen gibt es einige Gemeinsamkeiten zwischen Verschwörungsglauben und Religion. Durch den Vergleich kann aber auch ein anderer Fokus gewonnen werden: Wie bei Religion geht es im Verschwörungsglauben um mehr als um eine «Theorie».

In meiner Schulzeit hatte ich einen Klassenkameraden, der am gleichen Tag Geburtstag hatte wie ich. Ich hatte das immer für etwas Besonderes gehalten – bis zu dem Tag, als wir in der Mathematik das Thema «Wahrscheinlichkeit» behandelten. Bei einer Klasse von 24 Personen liegt die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Personen am gleichen Tag Geburtstag haben, über 50% – also eigentlich im Bereich des Zufalls. Dieses Ergebnis erstaunt. In der Mathematik spricht man daher auch vom Geburtstagsparadoxon.

Ich erwähne dieses Paradoxon hier, weil wir Menschen die Tendenz haben, den Zufall als Erklärungsmöglichkeit zu unterschätzen. In der Religion zieht man es vor, Ereignisse mit «Fügung», «Schicksal» oder «Karma» zu erklären und in Verschwörungstheorien scheidet der Zufall als Erklärungsmöglichkeit ganz aus. Verschwörungstheorien sind diesbezüglich hyperrational: «Sie unterstellen eine lückenlose Logik und Geschlossenheit hinter allem Geschehen. Es gibt keinen Zufall und kein Paradox, sondern nur die geheimen Interessen der Verschwörer.» (Pöhlmann, 2019, S. 95)

Kann das ein Zufall sein?

Diese Unterschätzung des Zufalls ist nur eine von mehreren erstaunlichen Parallelen zwischen Verschwörungstheorien und Religion. Ich habe mich daher gefragt, wie Verschwörungstheorien und Religion zusammenhängen und zu diesem Thema das Büchlein «Phänomen Verschwörungstheorien» herausgegeben. Ein paar Aspekte daraus möchte ich an dieser Stelle nennen.

Nicht jeder, der sich von einer Verschwörungserzählung verunsichern lässt, ist gleich ein Verschwörungstheoretiker. Es gibt aber Menschen, die Verschwörungstheorien mit einem missionarischen Eifer verbreiten, sich selbst als «Aufgewachte» verstehen, während die übrigen Menschen in ihren Augen entweder blind sind oder zu den Verschwörern gehören. In solchen Fällen, die sich durch ein unerschütterliches Vertrauen auf die eigene Wahrheit auszeichnen, macht es Sinn, nicht von einer Verschwörungs-Theorie, sondern von einem «Verschwörungs-Glauben» zu sprechen. (Metzenthin, 2019, S. 11)

Verschwörungsglauben religionswissenschaftlich betrachtet

Verschwörungsglaube erklärt die zunehmend komplex gewordene Welt durch den Kampf Gut gegen Böse. Die als böse und unheimlich mächtig angesehenen Verschwörer spielen dabei nicht nur die Rolle einer dankbaren Projektionsfläche, sie sind auch Rechtfertigung für das «aufklärerische» Engagement von Verschwörungsgläubigen. Diese finden darin einen neuen Lebenssinn. Und dazu schliessen sie sich online wie offline in Gemeinschaften von Verschwörungsgläubigen zusammen.

Mit Sinnstiftung, Welterklärung, Komplexitätsreduktion und Gemeinschaftsbildung beschreibt die Religionswissenschaft einige der Funktionen, welche Religion für das Individuum und in der Gesellschaft wahrnimmt. Aufgrund dieser (und weiterer) Parallelen kann argumentiert werden, «dass Verschwörungstheorien für ihre Anhänger durchaus eine Art Religionsersatz darstellen können.» (Metzenthin, 2019, S. 15). Glaubt, wer an nichts mehr glaubt, am Ende alles?

© Vera Rüttimann

Dass auf die Aufklärung nicht nur Rationalität, sondern auch ein neuer Aberglaube folgt, hat schon Karl Popper festgestellt, auf den auch der Begriff «Verschwörungstheorien» zurückgeht. Es ist umgekehrt allerdings nicht so, dass Religiosität vor Verschwörungsglauben schützt. Die Extremismus-Forscherin Myriam Eser hat beispielsweise aufgezeigt, wie «Verschwörungstheorien und jihadistische Radikalisierung zusammenwirken» (Eser, 2019, S. 23). Letztlich lässt sich das Verhältnis zur Religion folgendermassen auf den Punkt bringen: «Verschwörungsglaube nimmt eine umfassende Welterklärung vor, er wird zur Weltanschauung, die entweder an die Stelle von Religion tritt bzw. deren Funktion übernimmt oder aber sich innerhalb religiöser Systeme anlagern kann» (Pöhlmann, 2019, S. 104).

Es geht um mehr

Verschwörungstheorien und Religion haben zwar viele Parallelen, sie hängen aber nicht unmittelbar zusammen. Es gibt sowohl Verschwörungsgläubige, die sich selbst als religiös wie auch solche die sich als nicht religiös ansehen. Doch der Vergleich mit Religion kann uns darauf hinweisen, dass es für Verschwörungsgläubige immer um mehr geht als um eine «Theorie».

Kritisches Denken hilft zwar, Verschwörungstheorien zu durchschauen, doch Verschwörungsgläubige selbst sind mit rationalen Argumenten allein oft nicht erreichbar. Die Existenz der geglaubten Verschwörung ist für sie nicht die Frage eines rationalen Diskurses. Mit ihrem Engagement für die vermeintliche Wahrheit und in der Gemeinschaft der Gleichgesinnten ist der Verschwörungsglaube Teil ihres Selbstverständnisses geworden. Statt sich mit Verschwörungsgläubigen um Fakten zu streiten, kann es daher sinnvoll sein, auch einmal über die Motivation des Verschwörungsglaubens und die damit verbundenen Ängste und Verunsicherungen zu sprechen, aber auch gegenüber einfachen Schuldzuweisungen klar Stellung zu beziehen. Hierbei kann ich nur dem Sektenexperten Matthias Pöhlmann zustimmen: «Der Verschwörungsglaube in seinen vielfältigen, kruden und problematischen Erscheinungsformen sollte eines jedenfalls nicht erreichen: uns sprach- und hilflos machen» (Pöhlmann, 2019, S. 110).


Literatur

  • Myriam Eser (2019), Verschwörungstheorien als Trigger jihadistischer Radikalisierung, in: Christian Metzenthin [Hg.], Phänomen Verschwörungstheorien. Psychologische, soziologische und theologische Perspektiven, Zürich: TVZ, S. 19–38.
  • Christian Metzenthin (2019), Verschwörungstheorien und Religion, in: ders. [Hg.], Phänomen Verschwörungstheorien. Psychologische, soziologische und theologische Perspektiven, Zürich: TVZ, 9–18.
  • Matthias Pöhlmann (2019), Im Sinnlosen Sinn finden? Theologische Unterscheidungshilfen zum Verschwörungsglauben, in: Christian Metzenthin [Hg.], Phänomen Verschwörungstheorien. Psychologische, soziologische und theologische Perspektiven, Zürich: TVZ, S. 77–110.

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Christian Metzenthin ist Mittelschullehrer für Religion und Co-Leiter des Mittelschulfoyers an der Kantonsschule Zürich Nord. Als Mitglied der Kommission "Neue Religiöse Bewegungen der Evangelischen Kirche Schweiz" befasst er sich mit der religiösen Schweizer Gegenwart und ist Herausgeber ihrer Tagungsbände.

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