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Amira Hafner-Al Jabaji

«Wir können unmöglich schweigen …

… über das, was wir gesehen und gehört haben». Was denken Menschen in unserer Gesellschaft, wenn sie dieses Bibelzitat aus dem Umfeld der römisch-katholischen Kirche vernehmen?

«Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben» (Apg 4,20), soll Petrus als Anführer der Apostel gegenüber dem Hohen Rat geantwortet haben, nachdem ihm ein Predigt-Verbot auferlegt worden war. Er sollte nicht mehr im Namen Jesu auftreten, nicht über die Wundertaten berichten und nicht die Lehre der Auferstehung predigen. Das Zitat ist das aktuelle Monatsmotto im Oktober, dem Monat der Weltmission, in der römisch-katholischen Weltkirche. Missionierende aus aller Welt zeugen dabei von ihren Verkündungsaktivitäten, oft unter politisch und sozial prekären Rahmenbedingungen. 

«Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben», liest sich im Kontext des ständig noch grösser werdenden Ausmasses von sexuellem Missbrauch durch katholische Geistliche an Kindern aber schon fast zynisch. Denn dass diese oft in sadistischer Weise verübten Verbrechen überhaupt an so vielen Schutzbefohlenen über so lange Zeit und an unzähligen Orten auf der Welt begangen werden konnten, ist genau dem systematischen Schweigen über das Gesehene und Gehörte anzulasten. Der Satz im gesamtgesellschaftlichen Kontext mit Bezug auf die römisch-katholische Kirche zu lesen, ist schwer verdaulich. Es sei denn, wir projizieren ihn auf die noch lebenden Opfer, die nach langer Leidenszeit ihr Schweigen endlich gebrochen haben.

© Vera Rüttimann

Ein und derselbe Satz in der Bibel fällt in die gleiche Zeit, aber auf unterschiedliche Kontexte, adressiert sich an unterschiedliche Publika, erfährt unterschiedliche Deutungen und trifft auf verschiedene Befindlichkeiten. Er entfaltet eine völlig andere Wirkung, je nachdem wer ihn verwendet, wo er hinfällt und welche Assoziation er weckt. 

Die Sache zeigt deutlich das Dilemma, das im Gebrauch von Zitaten aus «Heiligen Schriften» entsteht; mit der Bibel wie auch mit dem Koran. Wer sie aktiv verwendet, verwendet sie im eigenen Sinn, «im Guten» wie «im Schlechten». Wer sie wahrnimmt und verarbeitet, tut das ebenfalls auf der Grundlage eigener Erfahrungen, eigenen Wissens und Fühlens. Auch wer nicht zum inneren Zirkel einer Gemeinschaft gehört, hört solche Zitate und ordnet sie danach ein, wie es der gesamtgesellschaftliche Diskurs vorgibt. Der interessiert sich nicht für Interna und theologische Überlegungen, sondern für die realen Verhältnisse im Hier und Jetzt.

Zu häufig widerspricht die gelebte Realität dem moralischen Sinn der Worte.

Aus der Islam-Debatte ist mir diese Spannung geläufig. Schon lange ist da ein Unbehagen, mit Koran-Zitaten die öffentliche Debatte zu führen. Zu unterschiedlich der Kenntnisstand, zu wenig beachtet die wichtigen Nuancen. Vor allem aber: Zu häufig widerspricht die gelebte Realität dem moralischen Sinn der Worte. Deshalb sollte aber nicht der Text angegriffen werden, sondern jene, die vorgeben ihm zu folgen. Denn am Ende zählt nicht der Wortlaut des Mottos, sondern das Handeln im umfassenden biblischen oder koranischen Sinn. 


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Amira Hafner-Al Jabaji studierte Islam- und Medienwissenschaften an der Universität Bern. Seit über zwanzig Jahren arbeitet sie freischaffend als Referentin, Autorin und Journalistin im Bereich interreligiöser Dialog. Von 2015 bis 2021 moderierte sie die «Sternstunde Religion» des SRF.

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