Herausforderungen  ·  religion.ch
Rafaela Estermann

Aus der Redaktion: Unsere Herausforderungen

Zusammenfassung – Die mediale Darstellung von Religion ist mit vielen Herausforderungen verbunden. Als Plattform im interreligiösen Dialog arbeiten wir für das friedliche Zusammenleben. Wir möchten Stereotype und Vorurteile hinterfragen und überlegen, welche Denkweisen uns das Zusammenleben in der wachsenden Diversität der Schweiz erleichtern. Religion(en) sind mit vielen Stereotypen verknüpft. Von Menschen, die sich sichtbar einer Religion zuordnen, werden bestimmte Verhaltensweisen erwartet. Irritationen sind so vorprogrammiert – ob die Erwartungen erfüllt werden oder nicht. Deshalb ist unser Credo: Begegnungen passieren zwischen Menschen und nicht zwischen Religionen. Neue Bilder und Denkweisen ins Gespräch zu bringen, geht jedoch meist nicht, ohne die alten Bilder zu bearbeiten. Dabei laufen wir Gefahr, Stereotype zu verstärken, die wir verändern wollen, das Bild völlig zu verzerren oder überhaupt nicht verstanden zu werden. Nicht nur das ist ein schwieriger Balanceakt, auch Reichweite zu generieren und trotzdem den eigenen Werten treu zu bleiben, ist nicht immer einfach.

Wenn wir auf «religion.ch» Themen darstellen, ist für uns immer auch wichtig, wie wir über sie sprechen, wie wir beim Sprechen über die Themen unsere Ziele erreichen und also mit religion.ch wie mit allen Projekten von IRAS COTIS das friedliche Zusammenleben fördern können. Im Gegensatz zu einer Zeitung oder sonstigen Informationsplattformen ist «religion.ch» ein Projekt aus dem interreligiösen Dialog und hat sich entsprechend zum Ziel gesetzt, das friedliche Zusammenleben zu fördern und Stereotype und Vorurteile aufzubrechen.

Bei allem, was wir erreichen möchten, begegnen wir aber immer wieder Herausforderungen. Uns ist es wichtig, über diese Herausforderungen zu sprechen und uns gemeinsam Lösungen zu überlegen. Dieser Artikel bietet dementsprechend einen kleinen Einblick in die redaktionelle Arbeit hinter «religion.ch». 

Wahrnehmungskontext und Religionsverständnis in der Schweiz

Die meisten Menschen haben ein statisches Bild von Religion als etwas, das unabhängig vom Menschen existiert und sich nicht verändert. Sie denken an Gebilde wie «das Christentum», «den Islam», «den Hinduismus» und so weiter. Diese grossen Kategorien unterteilen sie manchmal noch in Konfessionen oder Strömungen – aber meistens nur im Christentum. Das Christentum wird vor allem mit Institutionen, den Kirchen, verbunden. Das Individuum steht in dieser Vorstellung ganz zuunterst und richtet sich nach den Institutionen und den grossen Lehrgebäuden der Religion, der es angehört.

Es entspricht nicht dem, wie sie ihren Glauben oder ihre Spiritualität erleben.

Für unsere Arbeit kommt dieses Religionsverständnis aus mehreren Gründen nicht in Frage. Es stammt aus den Anfängen der Religionswissenschaft, aus der Kolonialzeit, und orientiert sich am Prototyp «Christentum». Es löst bei vielen Menschen den Reflex aus, sich als nicht religiös, aber spirituell oder nicht religiös, aber gläubig zu bezeichnen, weil sie sich damit nicht identifizieren können. Es entspricht nicht dem, wie sie ihren Glauben oder ihre Spiritualität erleben. Diese Auffassung des Christentums mit einem Set an Glaubensvorstellungen, Ritualen, Verhaltensweisen und Regeln ist überhaupt nur selten so bei Menschen anzutreffen. Zum Wahrnehmungskontext von Religion, Religionen, Nicht-Religion und so weiter kommen dann noch spezifische Stereotype und Vorurteile für jede einzelne Religion hinzu. So wird der Katholizismus häufig mit einer rigiden Sexualmoral verbunden oder der Islam mit der Unterdrückung von Frauen. 

Mit diesen Gebilden, dem Christentum, dem Islam etc. sind sehr viele stereotype Vorstellungen verbunden. Sie verleiten dazu, ein bestimmtes Set an Verhaltensweisen und Glaubensvorstellungen genau so bei einem Menschen zu erwarten. In der Begegnung kann das dann zu Irritationen führen. Ein Christ, der nicht an das Paradies glaubt oder eine Muslima, die im Ramadan nicht fastet? Haben sie ihre Religion etwa nicht richtig verstanden? 

Begegnungen passieren zwischen Menschen und nicht zwischen Religionen

Aus dem interreligiösen Dialog wissen wir, dass Begegnungen zwischen Menschen und nicht zwischen Religionen stattfinden. Aus der religionswissenschaftlichen Forschung wissen wir, dass Menschen sich bei verschiedenen Vorstellungen über diese Welt bedienen und ihr Weltzugang stark durch die verschiedenen Kontexte geprägt ist, in denen sie sozialisiert wurden. Wir gehen davon aus, dass jeder Mensch einen spezifischen Weltzugang hat, dieser kann religiös, nicht-religiös, spirituell oder sonst was sein. Für uns steht das Individuum und nicht «Religion» im Zentrum.

Wir sind also im Blindflug unterwegs …

Für uns spricht deshalb sehr viel dafür, dieses Religionsverständnis über Bord zu werfen und uns anders zu orientieren. Natürlich kann auch über unser Verständnis gestritten werden. Es gibt nämlich praktisch keine Forschung dazu, wie das Religionsverständnis von Menschen beeinflusst, wie sie sich im Dialog miteinander verhalten. Wir sind also im Blindflug unterwegs und das online, also ohne direktes Feedback und ohne Begleitung aus der Forschung insgesamt. 

Neue Bilder müssen die alten aufgreifen

Vor diesem Wahrnehmungshorizont stehen wir nun und möchten ihn verändern. Und trotzdem müssen wir ihn in unsere Überlegungen und Darstellungen einfliessen lassen, wenn wir verstanden werden wollen. Bei der Ausarbeitung unserer Themen haben wir die Vorurteile und Stereotype der Menschen in der Schweiz gegenüber Religion(en) im Hinterkopf und versuchen, durch den Mix an Artikeln zu den einzelnen Themen ein differenzierteres Bild zu schaffen.

Damit sind verschiedene Schwierigkeiten verbunden. Denn das führt des Öfteren zu Kommentaren und Mails, weil unsere Autor:innen als repräsentativ für «das Christentum» oder «den Islam» angesehen werden. Wenn die Darstellung unserer Autor:innen nun nicht dem entspricht, was dem Stereotyp gemäss erwartet wurde, wird sie als «Falschdarstellung» angesehen oder die Leute meinen zu wissen, was unsere Autor:innen eigentlich hätte beschäftigen sollen. Ein schönes Beispiel dafür ist dieser Kommentar unter einem Artikel einer Schweizer Muslimin über die Vermittlung ihrer Religion an ihre Kinder: «Hübsche Rosafärbung. Die Farbe hält jedoch nicht lange. Dazu braucht man nur eine Frage stellen: Wie passt das alles zusammen mit der Zwangsbeschneidung?»

Stereotype vs. Gegennarrative

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man Vorurteile und Stereotypen angehen kann. Erstens können sie direkt angesprochen werden, zweitens können Gegennarrative aufgezeigt werden. Es gibt Argumente für und gegen beide Herangehensweisen.

Stereotype direkt anzusprechen, bedeutet auch, diese Assoziation zu reproduzieren und die Verbindung damit eventuell eher zu stärken als sie zu schwächen. Allerdings ermöglicht es auch, sich bewusst zu werden, dass diese Assoziation überhaupt besteht und nicht selbstverständlich ist und also auch nicht so sein muss.

Gegennarrative setzen mehr auf einen impliziten Lerneffekt. Durch das Sehen und Erleben von Situationen und Menschen, die den eigenen Erwartungen widersprechen, werden die Stereotype und Vorurteile bestenfalls auch in Zweifel gezogen, und zwar ohne die erhobene Hand der Lehrperson, die auf die eigenen problematischen Vorstellungen hinweist. Das ist eine etwas sanftere Methode.

Bild: naumoid/iStock

Das Thema «Liebe und Ehe» ist ein gutes Beispiel, um diese Überlegungen durchzuspielen und zu zeigen, dass sie in der Umsetzung teilweise nur schwer zu trennen und teilweise auch gegenläufig sein können. Beim Thema «Liebe und Ehe» haben wir den Fokus auf Normen gelegt, weil Religion(en) per se eng mit Normen verknüpft werden und dabei allzu oft übersehen wird, dass solche Normen ebenso auch bei nicht-religiösen Menschen vorhanden sind.[1] 

Dieses Thema aufzugreifen, bietet gleichzeitig Risiken und Chancen. Wir möchten eigentlich nicht, dass die Assoziation von Normen, Regeln und Religion noch weiter verstärkt wird, andererseits glauben wir, dass die Reflexion dazu, dass Normen und Regeln auch das Liebesleben von nicht-religiösen Menschen bestimmen, noch überhaupt nicht vorhanden ist. Deshalb sind wir der Meinung, dass wir das zuerst ausformulieren müssen, bevor wir Gegennarrative bieten können und diese auch als solche verstanden werden. Das führt aber sogleich zu einer nächsten Schwierigkeit: die «angemessene» Darstellung.

Ein «angemessener» Einblick in die gelebte Religion in der Schweiz

Auch hier möchte ich beim Beispiel des Themas «Liebe und Ehe» bleiben: Christliche Kirchen werden in der Öffentlichkeit in Bezug zu Sexualität vor allem mit rigiden und veralteten Regeln, Ausschluss von Homosexualität, Zölibat und so weiter verbunden. Einerseits möchten wir das aufbrechen und zeigen, dass es viele Menschen an der christlichen Basis gibt, die ihre Sexualität überhaupt nicht so leben. Andererseits ist es ein Thema innerhalb von christlichen Gemeinschaften auf ganz verschiedenen Ebenen. Da gibt es zum Beispiel die Regenbogenkirche oder den Zwischenraum, also Menschen der LGBTQI-Community, die sich gegen bestimmte Normen in christlichen Gemeinschaften einsetzen. Oder wir sehen Projekte in Kirchen, die das Thema Sexualität im Kontext der Kirchen angehen. 

Gibt es nicht schon genug Geschichten in den Medien, die diese Assoziation bedienen?

All diese Artikel zu Liebe und Sexualität auf «religion.ch» können als Gegennarrative von Menschen verstanden werden, die als Christ:innen ein Verständnis von Liebe, Beziehung und Sexualität haben, das nicht dem gängigen Bild entspricht. Gleichzeitig verstärken alle diese Geschichten ein Bild von christlichen Kirchen, die rigide, veraltete Normen pflegen. 

Und das gehört auch dazu, denn es ist auch eine Realität, dass diese Menschen sich gegen bestimmte Normen wehren und diese verändern möchten. Aber dennoch bleibt die Frage: Gibt es nicht schon genug Geschichten in den Medien, die diese Assoziation bedienen? Gehen wir nicht darauf ein, könnte man uns zurecht vorwerfen, wir betrieben eine Schönfärberei. Gehen wir darauf ein, verstärken wir vielleicht den Stereotyp, den wir bekämpfen möchten. 

Aufmerksamkeit und Reichweite

Wenn wir unsere Ziele erreichen möchten, brauchen wir ausserdem eine bestimmte Reichweite. Menschen neigen jedoch dazu, sich vor allem diese Dinge zu Gemüte zu führen, die ihr eigenes Bild bestätigen. Wir haben aber das Ziel, Vorurteile und Stereotype anzugehen und zu verändern. Wie erreichen wir also die Personen, die wir für unsere Ziele erreichen müssten?

Neben Werbung auf verschiedenen Kanälen versuchen wir natürlich, manchmal auch Titel zu setzen, die eine Spannung erzeugen und hoffen, dass die Leser:innen darauf reagieren und sich die Beiträge dann anschauen. Auch hier begeben wir uns auf eine Gratwanderung.


[1] Eine interessante Lektüre dazu bietet das Buch «Regeln» von Lorraine Daston

Autor

  • Rafaela Estermann

    Religionswissenschaftlerin und die Redaktionsleitung von religion.ch ||| Rafaela Estermann ist Religionswissenschaftlerin und die Redaktionsleitung von religion.ch. Ihre Schwerpunkte sind Nicht-Religion, Säkularität und der Diskurs über Religion und den Islam in der Schweiz. Zudem arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät Zürich in einem Forschungsprojekt (MORE) zum Religionsunterricht über den Islam in verschiedenen Religionsunterrichtsmodellen in der Schweiz, Deutschland und Österreich.