Normen, Veränderungen – oder Religion ist gar nicht so wichtig?

Das Bild von Liebe und Ehe, das hier in der Schweiz viele Menschen in sich tragen, ist stark durch die Romantik – und durch zahlreich Hollywood-Liebeskomödien – geprägt. Tiefe Empfindungen, romantisches Kennenlernen, frei von familiären und traditionellen Leitplanken, ein herzzerreissender Antrag auf Knien, weisse Brautkleider, etwas Altes, Neues, Geliehenes, Blaues und einen Glückspfennig im Schuh, zwei Kinder, ein Haus, Hund und Garten, zusammen alt werden … Wie «frei» ist da die Liebe tatsächlich? Denn diese Auflistung ist zugleich eine Wiedergabe gesellschaftlicher Normen. Diese bestimmen, welchen Partner oder welche Partnerin wir als passend empfinden, wie wir uns das Kennenlernen, die Beziehung, die Familienplanung oder das Zusammenleben vorstellen.

Der Mythos der «freien» Liebe

Die «freie» Liebe, die ihre Anfänge in den 1870er Jahren bei Victoria Woodhull fand, war zuerst eine Forderung, die Frauen vom Korsett der damaligen gesellschaftlichen Zwänge zu befreien. In der zweiten Frauenbewegung der 60er Jahre in Europa und Amerika wurde die «freie» Liebe erneut zum Thema. Auch da sollten damit Normen durchbrochen werden. Dieses Mal ging es jedoch um vor- und ausserehelichen Sex.

Dass die Liebe frei sein soll, bedeutet jedoch für viele noch mehr. Tradition, Familie, Religion sollen weder die Partnerwahl noch die Art und Weise des Zusammenlebens beeinflussen. Sie werden als nicht mehr zeitgemäss, überholt und unmodern wahrgenommen. Insbesondere Religion wird mit Zwang, Regeln, Verboten, Normen und dem alten, vergangenen oder sogar überwundenen System verbunden. Es fragt sich jedoch, wann Normen für Liebe und Ehe als solche wahrgenommen werden, die einengen und wann sie schlicht nicht gesehen werden, weil sie so sehr den eigenen Sichtweisen entsprechen.

Die oben aufgezählten Vorstellungen sind Normen. Sie beschreiben, wie es sein soll, was sein darf und was nicht. Solange diese Normen für einen selbst stimmen, werden sie nicht als einengend wahrgenommen. Erst wenn sie vom eigenen Weltbild abweichen oder erheblichen Schaden zufügen, werden sie überhaupt als Normen «entdeckt» und vielleicht auch herausgefordert.

Normen und Zwang

Die Religiosität und die Weltbilder der Menschen in der Schweiz haben sich in den letzten Jahrzehnten sehr verändert, weshalb sich auch Vorstellungen von Liebe, Beziehung und Ehe gewandelt haben. Die alten Normen und gesellschaftlichen Regeln werden als einengend wahrgenommen und kritisiert. Die aktuelleren Regeln stimmen mit dem eigenen Empfinden überein und werden folglich in der Tendenz eher nicht wahrgenommen. So liegt der Schluss nahe, religiöse Normen mit Zwang zu assoziieren.

Die Fachstelle Zwangsheirat beschreibt, dass es sich bei Zwangsheirat um «verwandtschaftsbasierte Geschlechtergewalt» handelt, «die auf geschlechtsspezifischen Normen und Rollenbildern beruht. Solche können sich auch in religiösen Dogmen und Traditionen wiederfinden.» Hier ist zu beachten, dass keinesfalls eine gesamte Religion mit solchen geschlechtsspezifischen Normen und Rollenbildern in Verbindung gebracht werden sollte. Religionen existieren immer nur in ihrer Diversität. Es sind spezifische Strömungen oder auch lokale Ausprägungen, bei denen geschlechtsspezifische Rollenbilder und Normen zu Zwangsheiraten führen können.

Normen verändern und hinterfragen …

Insgesamt ist es wichtig, das Bild zu differenzieren. Religion ist nichts Statisches, das die letzten 1000 Jahre keine Veränderungen gesehen hat. Sowohl die religiösen Institutionen wie die Kirchen haben sich verändert, als auch die Glaubenslehren und wie die Menschen diese praktizieren.

Gerade die christlichen Kirchen werden immer wieder mit Zwang bezüglich Sexualität und Familienbild assoziiert. Wie der Beitrag «Als ich joggte…» von Haiko Behrens auf eine humorvolle Art und Weise zeigt, kursieren viele Vorurteile bezüglich Liebe und Ehe. Verschiedene Aspekte können dieses Bild jedoch etwas differenzieren. Innerhalb der christlichen Kirchen gibt es verschiedene Bewegungen, die sich für eine offen gelebte Sexualität und weniger Einschränkungen bezüglich Ehe und Beziehungen einsetzen. In Religionsgemeinschaften muss ausserdem immer auch zwischen Lehren und theologischen Diskussionen über diese Lehren, den kirchlichen Institutionen und der von den Menschen gelebten Realität unterschieden werden.

… auf der Ebene der Institutionen

Auf der Ebene der kirchlichen Institution gibt es in Zürich das Beispiel der Regenbogenkirche. «In der Regenbogenkirche feiern lesbische, schwule, bi, Trans-, queere und heterosexuelle Menschen zusammen Gottesdienste und sind gemeinsam unterwegs mit Gott», so Urs Bertschinger. Diese Menschen haben innerhalb der Evangelisch-methodistischen Kirche einen Ort gefunden, um ihren Glauben zu leben und für eine Erweiterung der Beziehungsmodelle einzustehen. Ein etwas anderes Projekt ist der «Zwischenraum». Der Zwischenraum ist ein interkonfessioneller Treffpunkt für Menschen, die sowohl Christ:innen als auch queer sind. Jan Emmanuel Harry spricht in seiner Reportage mit zwei Personen, die im Zwischenraum eine neue Heimat im christlichen Glauben gefunden haben und so die Möglichkeit sahen, sich und ihre Sexualität zu akzeptieren und dennoch ihren Glauben nicht zu verleugnen.

Ebenfalls stark mit der institutionellen Ebene verbunden ist das Ausbrechen von Priestern aus dem Pflichtzölibat und der Kampf der Zöfra, der vom Zölibat betroffenen Frauen, gegen institutionelle Regelungen zur Sexualität und Familiengründung der Priester der katholischen Kirche. In der Vergangenheit passierte es immer wieder, dass Priester und Frauen sich verliebten und dann entweder heimlich zusammen waren und Familien gründeten oder Priester aus ihrem Amt zurücktraten, um die Beziehungen offen zu leben.

Die Zöfra wurde als Hilfestellung für Frauen von Priester gegründet, wie eine der Vorstandsfrauen berichtet. Sie setzte sich aber gleichzeitig auch seit ihrer Gründung für die Abschaffung des Pflichtzölibats ein. Nun, da es immer weniger Priester und immer weniger aktive Katholik:innen gibt, ist auch die Zahl der Menschen gesunken, die die Hilfe der Zöfra benötigen. Auch gesellschaftliche Normen haben sich verändert. Dass sich ein Priester verliebt, wird allenfalls mit einem Schulterzucken kommentiert, aber ein Skandal kann daraus nur noch schwer entstehen.

… auf der Ebene der Lehren und der Theologie

Auf der Ebene der Lehren und Theologie gibt es im Christentum zum Beispiel die feministische Theologie, die die Bibel aus einer anderen Perspektive neu liest und auslegt. Moni Egger zeigt, wie die biblische Urgeschichte im Paradies und das Hohelied der Liebe so gelesen und verstanden werden kann, dass daraus kein Gefälle zwischen Mann und Frau oder lediglich zwei Geschlechter abgeleitet werden müssen.

… auf der Ebene Mensch

Fernab der Institutionen gibt es auch Menschen, die sich in einen Menschen mit einer anderen Konfession oder Religion verlieben, heiraten und eine Familie gründen. Ein solches Beispiel für interreligiöse Beziehungen ist in der Reportage «Zwei Mal Weihnachten» von Alfredo Marku zu sehen. In der Realität spielen theologische Überlegungen und die Lehren der Kirche häufig keine grosse Rolle für Paare. Gelebte Religiosität setzt den Fokus anders und so feiert man eben auch zwei Mal Weihnachten, tauft ein Kind katholisch und das andere orthodox und verzichtet auf eine kirchliche Hochzeit, weil es für das eigene Leben und die eigene Religiosität einfach nicht so wichtig ist.

Andere Normen – Muss es wirklich Liebe sein?

Seit der Romantik ist die Meinung dominant, man müsse sich lieben, um eine Ehe einzugehen. Andere Gründe wie familiäre Verbindungen, materieller Gewinn oder freundschaftliche Gefühle sowie das Teilen von Werten und Lebensvorstellungen sind in den Hintergrund gerückt. Einige dieser Gründe werden gar verurteilt, während andere als Nebengründe noch ihre Gültigkeit beanspruchen dürfen. Als Hauptgründe werden sie jedoch auch nicht mehr gebilligt.

Muss wirklich immer Liebe im Spiel sein oder gibt es auch andere Beziehungen, die gut und wertvoll sein können – wenn nicht von Liebe, dann doch von Freundschaft geprägt? In ihrem Artikel zur «Liebe und Ehe im Islam» fokussiert Rifa’at Lenzin, Islamwissenschaftlerin und freie Publizistin, genau auf diese Frage: «Die Idee der romantischen Liebe ist ein recht junges Pflänzchen – und nicht sehr tragfähig, wenn man sich die Scheidungsraten in westlichen Gesellschaften vor Augen hält.»

Liebe kennt keine Grenzen: Interkulturelle und interreligiöse Beziehungen

Beziehungen zwischen Menschen, die verschiedenen Religionen angehören, werden gemeinhin als konfliktreich eingeschätzt. Aber sind sie das wirklich? Eine Studie von Andrea Zimmermann zu Beziehungen von buddhistischen Frauen mit Schweizer Männern zeigt, dass die Religiosität der Frauen selten zu Konflikten führt. Einzig Geldspenden an die Mönche, welche die Frauen tätigen, sein ein Konfliktfaktor, wie Andrea Zimmermann in ihrem Artikel schreibt.

Michael Ackert, der an der Universität Bern zu interreligiösen Beziehungen forscht, kommt zum Schluss, dass die Aussenperspektive auf diese Paare mehr Konflikte annimmt, als tatsächlich vorhanden sind. Oft hätten die Partner:innen bereits gangbare Lösungen für das Zusammenleben gefunden und würden diese routiniert anwenden. Michael Ackert betont in seinem Artikel «Ein Paar, zwei Religionen», dass die Tatsache, dass beide Partner:innen aus unterschiedlichen religiösen Hintergründen kommen, viele Bereiche der Paarbeziehung und der Religiosität kaum bis gar nicht beeinflusst.

Es entspricht auch einem Stereotyp von «Religion», dass sie häufig die Ursache von Konflikten in Ehen darstelle. Eventuell sind es auch hier eher die stereotypen Vorstellungen, die uns vermuten lassen, dass eine interreligiöse Beziehung konfliktreich sein müsse, und weniger die Realität.

Gleich und gleich gesellt sich gern?

Eine Heirat zwischen Menschen mit derselben Religion wird in einer säkularen Mehrheitsgesellschaft teilweise skeptisch beäugt, weil Zwang und kontrollierende Familien damit assoziiert werden. Es stimmt natürlich, dass es Familien gibt, die gegen den Willen ihrer Kinder in deren Familien- und Zukunftsplanung eingreifen, wie der Artikel der Fachstelle Zwangsheirat zeigt. Es gibt hier dennoch zwei Mal ein «aber».

Die Hochzeit mit einer Person mit einem ähnlichen Weltbild ist auch bei nicht-religiösen Menschen üblich. Daten des Statistischen Amtes zeigen für die Schweiz, dass über alle Religionen und Konfessionen und auch bei nicht-religiösen Menschen am häufigsten Partner:innen mit demselben (nicht-) religiösen Hintergrund geheiratet werden. Wahrscheinlich wünschen sich auch die meisten Eltern für ihre Kinder jemanden, der ihren eigenen Lebensvorstellungen entspricht.

Religiosität ist jedoch immer nur ein Teil einer Identität. In der Realität ist es gut möglich, dass für Menschen dieser Teil im Hinblick auf Liebe und Ehe nicht sehr wichtig ist und die andere Religionszugehörigkeit der Partner:innen in einer Beziehung keine Rolle spielt.

Nicht nur Tinder, Bumble und Co. lassen es zu, die «Matches» nach Religion zu filtern. Es gibt auch Dating-Apps, die spezifisch auf die Suche nach Partner:innen ausgerichtet sind, die den eigenen religiösen Anforderungen entsprechen. Nicht nur erfüllt in diesen Apps bereits der Datingprozess die eigenen religiösen Vorstellungen, auch das Profil wird detailgetreu auf das gewünschte Profil ausgerichtet. Mira Menzfeld schreibt in ihrem Artikel «Warum Online-Dating bei besonders frommen Menschen boomt», dass solche Apps sehr frommen Menschen auch eine Möglichkeit bieten, ihr Einzugsgebiet für die Partnersuche zu erhöhen. Denn sehr fromme Christen, Hindus oder Muslime sind alle eher kleine Minderheiten auf der Karte der Schweizer Religionslandschaft, was die Auswahl verkleinert und die Wahrscheinlichkeit verringert, einander per Zufall zu treffen.

Gesellschaftliche und religiöse Themen auf religion.ch

Normen bestimmen, wie wir uns verlieben, welche Beziehungen wir eingehen, welche halten und wie respektive ob wir Liebesbeziehungen zeremoniell rahmen. Normen können Zwang bedeuten, aber auch als schön und richtig empfunden werden. Sie verändern sich über die Zeit – auch in Religionsgemeinschaften. Die fundamentale Frage: «Muss es wirklich Liebe sein?» wird bei allem Veränderungswillen jedoch nur selten gestellt. Menschen verlieben sich immer wieder über die Religionszugehörigkeiten hinaus – auch wenn das nicht unbedingt der Normalfall ist. Die gleichen Vorstellungen vom Leben sind nun mal wichtige «matchingpoints», wenn es um glückliche Liebe und Ehe geht. Das muss aber nicht heissen, dass nicht über Religionszugehörigkeiten hinaus Lebensvorstellungen geteilt werden können.

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